Es war einmal....
Wer von uns kennt sie nicht? Diese überwältigende Traurigkeit, die uns manchmal aus heiterem oder bewölktem Himmel überfällt.
Sie kann wie ein Hauch von rosaroten Farben um uns herum schweben. Sie kann sich wie eine Wolke von Schwere durch unser Leben ziehen. Oder taucht in den glücklichsten Momenten wie eine himmlische Schwester auf und lässt uns ratlos zurück. Sie kann uns verbunden und gleichzeitig komplett getrennt fühlen lassen. Wenn wir einem anderen Menschen im Zustand der Traurigkeit begegnen, kann sie ein tiefer Treffpunkt jenseits von Zeit und Raum sein. Dieses große Gefühl lässt sich nicht in Schubladen stecken und scheint in unserer Seele auf raffinierte Weise einen wundervollen Eindruck zu hinterlassen.
Wer von uns kennt es nicht, diese Traurigkeit zu verurteilen, sie auch wegschieben zu wollen, weil sie uns gerade nicht in den Kram passt. Die Traurigkeit hat viele Gesichter. Je nachdem, wie sehr wir sie verurteilen, kann die Färbung ihrer Auswirkung unterschiedlich sein.
Die Traurigkeit kann individuell ganz unterschiedliche Namen haben:
- „Allumfassende Verbindungs - Traurigkeit“
- „Bodenlose Referenzpunkt - Verliererin“
- „Sanfte Wellenreiterin“
- „Tiefe Versteherin“
- „Dunkle Saugerin“
- „Weltentaucherin“
- „Wesenskerneroberin“
- „Verbindungsvermeidende“
- „Erlaubnisgeberin“
u.v.m... je nach Lebensstil kann sich diese universelle Traurigkeit positiv oder negativ bemerkbar machen.
Mit großer Hochachtung begegne ich in den verschiedensten Seminaren und Einzelsitzungen dieser Traurigkeit und erzähle gerne folgende Geschichte:
Eine junge Frau in einem weißen Gewand steht in einer verlorenen Landschaft am Ufer eines ausgetrockneten Sees. Es ist merkwürdig still. Kein Vogelgezwitscher ist hörbar. Eine trockene Atmosphäre, die sich durstig und ausgehungert anfühlt. Die Farben spiegeln ein Spiel zwischen grau, hellbraun und beige. Nichts deutet auf Wachstum hin. Die junge Frau hat den sehnsüchtigen Wunsch endlich schwimmen zu können. Verzweifelt hebt sie ihre Hände gen Himmel und spricht zur universellen Stille:
„Bitte, bitte – ich bin extra einen weiten Weg gegangen, um endlich schwimmen zu können. Alles habe ich gegeben, aufgegeben und jede Mühe auf mich
genommen, um in diesem See schwimmen zu können. Und jetzt ist er leer. Ich bin verzweifelt, wütend und müde! Was kann ich tun?“
Nach einer ganzen Weile des Jammerns lässt sie sich am Rande des Sees nieder. Ein unruhiger Schlaf nimmt sie zu sich.
Als sie wieder zu sich kommt, erblickt sie am anderen Ufer des ausgetrockneten Sees eine alte Frau in einem luftigen schwarzen Umhang. Der Staub entlang des Uferrandes wird durch die Schritte der Greisin aufgewirbelt.
Verdutzt richtet sich die junge Frau auf und winkt der Alten zu. Ein sanfter Wind setzt ein, der sie beruhigt und ihrer Verzweiflung eine Ruhepause gönnt. Tiefe Atemzüge gehen durch ihren Körper. Es kommt mehr Farbe in ihr weißes Gesicht.
Fasziniert beobachtet sie die alte Frau, wie diese ohne Eile langsam auf sie zukommt. Der Wind wirbelt neue Farben auf, die wie Regenbogenfarben aus dem NICHTS auftauchen.
Je näher sich die beiden Frauen kommen, umso intensiver wird das Farbenspiel.
Die alte Frau gesellt sich zu der Jungen und fragt: „Wer bist du denn und was hast du?"
Die junge Frau senkt ihren Kopf. Mit leeren Augen schaut sie in den ausgetrockneten See.
„Ich bin Sami und bin hier, um endlich beim Schwimmen im See meine Freiheit zu bekommen. Davon habe ich geträumt und jetzt ist der See leer.“
Oldin, die alte Frau, nickt zustimmend mit dem Kopf und fängt an leise zu weinen.
Erstaunt schaut Sami auf das runzelige Gesicht und beobachtet mit wachsender Neugierde die Schönheit der laufenden Tränen. Still werden sie zu einem Fluss, die sich ihren Weg über das ganze Gesicht und den Körper suchen, bevor sie in den verdorrten Boden sickern.
Sami spürt, wie auch etwas in ihr ins Fließen kommen möchte. Ihre Augen werden feucht und nach dem ersten Kampf gegen die Flut, lässt sie ihre eigenen Tränen laufen. Das Weinen erfasst sie in bebenden Wellen und nach anfänglichen Widerständen gibt sie sich dem Weinen hin.
Die ersten Tropfen benetzen das Ufer, es werden immer mehr und ein grösser werdendes Rinnsal strömt in den See.
Der Wind berührt in sanftem Einverständnis die beiden Frauen. Regenbogenartige Formen begrüßen die Tränen mit einem Sprühnebel von klarem und reinigendem Wasser. Von überall her erheben sich Pflanzen und wunderschöne Blumen, die im Vergessen geruht haben. Sie fühlen sich aufgefordert, ihre Schönheit zu zeigen.
Mit großen und feuchten Augen blickt Sami umher und drückt zaghaft und dankbar ihre Schulter an die von Oldin. Die Alte erwidert die einladende Geste mit einem sanften Lächeln.
So sitzen sie lange und schweigend zusammen, bis Sami unvermittelt aufsteht und sich ihr Kleid auszieht. Den Wind auf ihrer nackten Haut spürend, streckt sie ihre Arme in den Himmel und lässt sich dankbar in das Wasser hineingleiten. Mit ihrem ganzen Körper gibt sie sich dem Tanz ihrer neuen Freiheit hin.
Mit großen Bewegungen gleiten ihre Arme durch das kühle Wasser und das Glitzern in ihren mutigen Augen spricht Bände. Sie taucht unter und wieder auf, während sie die Köstlichkeit des Salzwassers auf jeder Pore ihres Körpers genießt.
Wie ein Fisch gleitet sie durch das Wasser, während sie erstaunt die Veränderungen am Ufer des Sees aufnimmt. Neue Bäume und Pflanzen tauchen auf in noch nie gesehen Farben und Formen.
Nach einer ganzen Weile schaut sie zurück zur alten Frau.
Sie sieht wie Oldin ihren Umhang zurechtrückt, aufsteht und ihr zunickt.
Sie verabschiedet sich mit einem wissenden Augenzwinkern und verschwindet hinter dem Horizont der neuen Farben.
PAUSE
Wenn ich diese Geschichte in allen möglichen Variationen in unterschiedlichsten Situationen erzähle, wird es meist tief und ruhig im vorher turbulenten Sein.
Die universelle Traurigkeit wird zum Geschenk und eine Kontaktqualität wird spürbar, die nicht mehr an Konditionen gebunden ist.
Erlaube dir, die Nachwirkung dieser Geschichte zu spüren und nimm dir Zeit, deine eigene Quintessenz zu erforschen.
Andrea Wandel im Januar 2023
Auszug aus dem Buch "Die Weisheit der weiblichen Wunde" von Ulrike Hinrichs & Andrea Wandel.
Hier kannst du dir die Geschichte von Andrea vorlesen lassen: